Bitterblue
Sonnen-Untergangs-Stunden

Roman

puch-Verlag Göttingen 1997

 

Dieser Roman erschien - mit Ann-Kathrin Heidenreich als Ko-Autorin - im März 1997 rechtzeitig zur ersten "Buchmesse im Ried" in Stockstadt. Das Buch war das dort am meisten verkaufte, die erste öffentliche Vorstellung während einer Lesung bestens besucht.
Der Verlag schrieb auf dem Rückumschlag zu Bitterblue:

Reiner Lutter, Alt-Achtundsechziger und Lehrer an einem Provinz-Gymnasium, kommt kurz vor seinem 49. Geburtstag auf die Idee, mit seiner Lieblingsschülerin eine Familie gründen zu wollen. Hinderlich dabei ist allerdings, dass er bereits einmal mit der Mutter seiner Auserwählten liiert gewesen war.

Daneben fällt Lutter durch Gegensätze auf. Als Mitglied einer alternativen Partei vertritt er deren Interessen im Magistrat seiner Heimatstadt, während er ansonsten mit Vorliebe bei McDonald’s speist oder - entsprechend gekleidet - bei seinem Lieblingsverein, dem VfB Stuttgart, Fußball-Bundesligaspiele live miterlebt.

Die Handlung des Romans spielt vorwiegend in Südhessen. Bezüge zu realen Ereignissen herzustellen, bot sich daher an. Etwa zum Korruptionsskandal, der die Rathäuser von Biebesheim und Bensheim in der jüngsten Vergangenheit erschütterte, oder zum Schulleben am Gernsheimer Gymnasium. 

Mit Bitterblue legt Jochen Zillig nach „Gelegenheit macht Liebe“ seinen zweiten Roman vor. In Zusammenarbeit mit Ko-Autorin Ann-Kathrin Heidenreich hat er ein unterhaltsames und spannendes Werk geschrieben, das seine Leserinnen und Leser bis zur letzten Seite fesselt.

 

Es folgt als Leseprobe das 21. Kapitel des Romans:

Die Helden von Wembley


Es war der erste freie Mittwoch seit Lutters feierlicher Verabschiedung im Magistrat, und diesen Tag mochte er von Anfang bis zum Ende genießen. So war Heidelberg sein Ziel, die Stadt, in der er von 1967 an elf Semester studiert hatte, und in der er zusammen mit den Schülern aus seiner Rimbacher Referendariats-Examensklasse Anfang Juli 1974 noch kräftig von der Polizei mit Tränengas und Gummiknüppeln traktiert worden war. Sie waren - als völlig Unbeteiligte - in eine Demonstration des KBW gegen die Fahrpreiserhöhungen der Straßenbahnbetriebe geraten. Seine Schüler hatten auf diese Weise zusätzlich zu Lutters nun der Vergangenheit angehörenden Unterrichtsversuchen in Mathematik und Deutsch kostenlose, aber schlagkräftige Nachhilfe in Gemeinschaftskunde erhalten, statt zwanglos auf der Neckarwiese feiern zu können.
Die Zeiten, in denen die Polizei gegen Studenten und andere Unbotmäßige vorging, gehörten inzwischen längst der Vergangenheit an. Die Stadt hatte sich durch und durch gewandelt, den Muff der tausend Jahre neckarabwärts vertrieben und sich beispielsweise nicht weniger als vier McDonald’s - Restaurants zugelegt, deren bestes im Hauptbahnhof auch Lutters Frühstücksstation an diesem letzten Mittwoch im Juni gewesen war. Es war der Tag, an dem sich, wie es in den Gazetten zu lesen stand, im fernen Londoner Stadtteil Wembley Deutschlands Schicksal im Match gegen England zum Guten wenden könnte.  Im Falle einer Niederlage und des damit verbundenen Ausscheidens aus der Europameisterschaft würde sich dagegen auch im Fußball fortsetzen, was sich anderenorts auf ökonomischem Sektor schon länger andeute: Der Abstieg des gerade vereinten Vaterlandes in die Zweitklassigkeit.
Gegen zwölf hatte Lutter drei junge Japanerinnen - wie schon so viele davor - zu einem alternativen Stadtrundgang überredet und war, an Leib und Seele gestärkt, mit der Straßenbahn an den Bismarckplatz gefahren. Im Strom der Touristen und Kauflustigen spazierte er danach gemächlich die Hauptstraße bis zum Uniplatz, um dann bei Ziehank in Reiseführern für die Bretagne zu schmökern. Ein Ankauf eines der reichbebilderten Werke unterließ er allerdings, denn für die Sommerferien mochte er sich angesichts der Dorothee betreffenden Unwägbarkeiten bis jetzt noch keine Fahrt verordnen. 
Nach Ziehank fühlte sich Lutter reif für eine Tasse Kaffee. Doch der Perkeo war geschlossen und wurde gerade in einen ihm von Stuttgart her bekannten Schlemmertempel der Marke Marché umgebaut. Was nun? 
Gab es eigentlich den Robespierre in der Unteren Straße noch? Die Kneipe, in der sie sich damals nach Mollis abendlichen Hauptseminaren regelmäßig getroffen und mit ihrem Prof die antiautoritäre Bewegung samt Auswirkung auf die germanistische Wissenschaft diskutiert und kommentiert hatten, ehe man - dann allerdings ohne Molli - lange nach der Sperrstunde eng-umschlungen, but not in condition to fuck, mit der jeweiligen Favoritin den im Parterre des Hinterhauses gelegenen Matratzenlagern zutorkelte, die dort für alkoholisierte Weltverbesserer und andere studentische Zecher von einer vorausschauenden Wirtin gegen geringes Entgelt bereitgehalten wurden. 
Man sollte also einmal nach der Kneipe sehen, dachte Lutter und lenkte seine Schritte zurück über die Hauptstraße und das Küchengässchen jenem Eckhaus zu, in dem früher für ihn so manche Beziehung begonnen oder während abendlicher Neuorientierung geendet hatte. Drei Sandsteinstufen, die gleiche alte Tür wie damals, und auch der Schankraum präsentierte sich duster wie vor 25 Jahren. Der Baum am Tresen stand noch. An den blank gescheuerten, schon damals vorhandenen Holztischen vor den Fenstern saßen jedoch reifer und fülliger gewordene Herren seines Alters bei Bier und Würfelspiel. Die Hocker am Tresen machten ebenfalls den Eindruck, als seien sie seit Lutters Studienjahren nicht mehr ausgetauscht worden. Auf einem saß ein jüngerer Mann und heulte sich bei der Wirtin aus. Die jedoch war nicht mehr die Christina aus seiner Studentenzeit. Doch ihre Nachfolgerin hatte die frühere Besitzerin des Robespierre bereits in puncto Korpulenz eingeholt, und auch die Art, wie sie mit dem Häuflein Elend vor sich umging und seine Wunden zu schließen suchte, erinnerte Lutter an die späten sechziger Jahre, als Christina quasi im Nebenberuf Ersatzmutter des halben germanistischen Seminars der Universität gewesen war.
Lutter nahm einige Hocker neben dem Unglücklichen am Tresen Platz und sah sich um. Den Fernseher hatte es damals noch nicht gegeben. Und auch der Hinweis Fußball-EM-Übertragung!, der in akkurater Computerschrift neben dem Gerät an der Wand befestigt war, wäre  zu seinen Studentenzeiten innerhalb kürzester Zeit, da Werk des Klassenfeindes, von den Gästen samt zugehörigem TV-Apparat entfernt worden und auf dem Pflaster der Unteren Straße zerschellt. Und, o Schreck, hinten an der Ecke, wo es zu den Toiletten ging, waren heute Geldspielautomat und Flipper aufgebaut. 
O Schreck? Keinesfalls. Lutter war sogar fürs Erste zufrieden. Er könne doch den Nachmittag hier verbringen, sich irgendwann auch mal zu einer der Würfelgruppen setzen, ein bisschen mitspielen, danach eine der auf einer Schiefertafel angebotenen delikaten Suppen zu sich nehmen, um anschließend nach acht Uhr das Länderspiel bei einigen Glas Pils und hoffentlich guter und sachkundiger Gesellschaft zu verfolgen, kombinierte er.
Die Wirtin (oder war es nur eine Angestellte Christinas?) hatte unterdessen dem Armen eine Cola hingestellt und kam jetzt zu Lutter. Sie sah ihn prüfend an..
„Eine Tasse Kaffee“, bestellte er.
„Wie früher, ohne Zucker?“
„Wie?“
„Da kommt der satte und arrivierte Bürger Lutter nach Jahrzehnten wieder mal her und kennt seine Gaby nicht mehr!“ empörte sich die Bedienung. 
Gaby? Lutter sah sich sein Gegenüber genauer an. Blitzende blaue Augen, eine klitzekleine Narbe an der Schläfe. Das konnte eigentlich nur Gaby Scheerer, die unerbittliche Aktivistin des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes SDS und spätere Spartakistin sein!
„Doch“, sagte Lutter, immer noch überrascht. „Haus- und Landfriedensbrecherin für Marx und Engels, Lenin und Stalin!“
„Aber niemals für Mao Tse Tung!!“
Sie schob ihre umfänglichen Arme über den Tresen und umarmte Lutter.
„Und wie geht dir’s so, du angepasster Pauker?“
„Na ja, man lebt und wird älter. Aber wieso bist du hier? Ist das jetzt dein Robespierre?“
„Als Christina nicht mehr wollte und konnte oder umgekehrt, ich weiß es bis heute nicht, habe ich den Laden von ihr gepachtet. Allerdings ohne die berühmten Matratzen nebenan. Einfach zu teuer bei den Mieten heute! Christina lebt jetzt zufrieden draußen in Handschuhsheim von meinem Geld und lacht sich einen Ast, weil sie ausgerechnet mich für sich arbeiten lassen und ausbeuten kann.“
„Du hattest doch Examen gemacht, oder?“
„Schon mal was von Berufsverbot gehört?“
„Ach Gott!“
„Ach Marx, lieber Reiner, nicht ach Gott!“
„Immer noch?“
„Immer noch. Wenn’s uns auch kaum noch gibt. Meinst du, ich würde hier ‘ne Ortsgruppe von der PDS aufmachen? Nie und nimmer. Du trinkst also den Kaffee ohne Zucker?“
Lutter nickte, und sie machte sich am Kaffeeautomaten und am Wandschrank mit dem Geschirr zu schaffen.
Diese Gaby hatte ihn 1968 mal zur Rede gestellt. Wo er denn gewesen sei, als es gegen Springer und die Bildzeitung nach dem Attentat auf Rudi Dutschke gegangen war? Alle seien mitgekommen nach Neu-Isenburg zur Blockade der Druckerei, nur er habe gefehlt. So was könne man allenfalls einem reaktionärem Spießer durchgehen lassen, aber keinesfalls einem studentischen Vertreter im Fachbereichsrat!
Lutter hatte das an und für sich ja eingesehen und sich gar bis heute Vorwürfe gemacht, dass er an jenen Ostertagen im April 1968 einfach von der Bildfläche verschwunden war, nur um mit Anettchen lang Versäumtes intensiv nachzuholen und dabei in Welten vorzustoßen, die ihm bislang - trotz zweier Heidelberger Semester - recht unbekannt geblieben waren. Doch - zu seiner Entschuldigung, wie er fand - war er zu jeder vollen Stunde aus dem Bett geeilt, hatte das Radio angestellt und die neuste Entwicklung an den Demonstrationsfronten quer durch Deutschland aufmerksam verfolgt, um danach, gewissermaßen zwischendurch, eben jenes unbedarfte Anettchen derart politisch zu indoktrinieren, dass sie von da an nicht nur an jeder Aktion gegen Springer teilnahm, sondern ihr kleinbürgerlich-proletarisches Leben ab sofort radikal veränderte. So war es auch nicht verwunderlich, dass sich Einzelhandelskauffrau Anettchen nach der - erstmals für Lutter - im beiderseitigen Einvernehmen und freundschaftlich vollzogenen Trennung im Herbst für das Abendgymnasium anmeldete, drei Jahre später ihr Abitur bestand und danach als PH-Studentin recht bald auf Gaby traf. Diese, inzwischen auch gute Dekapistin und Mitglied des Bezirksvorstands, musste sich nämlich im Auftrag der Parteileitung immer mal wieder des schwachbrüstigen MSB Spartakus der pädagogischen Aspiranten annehmen und ihn auf Linie bringen, weil dessen Sprecherin Anette Lotze trotz oder gerade wegen ihrer proletarischen Herkunft gerne ganz und gar unkonventionell erfrischend und ohne jede Rücksprache mit der Partei der Werktätigen Politik an der PH betrieb.
Tja, dachte Lutter, als er die Milch in seiner Kaffeetasse verrührte, hätte er - trotz gelegentlicher Sympathien für die Ferngesteuerten und häufiger Besuche des Pressefestes ihrer Parteizeitung UZ - auch bei ihnen mitgemischt, wäre er nicht in weiser Voraussicht nur Mitglied der Hochschulgruppe der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft geblieben, zu der Gaby und Anettchen natürlich auch gehörten, dann wäre er wohl auch kaum beamteter Lehrer mit Bezahlung nach A 13 oder jetzt A 14 geworden, sondern - wie Gaby - mit Berufsverbot belegt worden und müßte heute sein Leben als Antiquitätenhändler, Öko-Bauer oder gar brotloser Dichter fristen. Andererseits bräuchte er dann auch nicht - wie morgen Abend vorgesehen - eine salbungsvolle Rede vor der feierlichen Überreichung der Reifezeugnisse an seine Tutorengruppe halten oder - wie in der Woche zuvor geschehen - Bescheinigungen über den Erhalt der Richtlinien des Landes Hessen zur Bekämpfung der Korruption unter den Bediensteten im Öffentlichen Dienst unterschreiben.
„Bleibst du noch ein bisschen?“ fragte Gabi, als er seinen Kaffee getrunken hatte.
„Nur noch für ‘ne neue Tasse, aber dann muss ich wieder los!“
„Frau und Kinder warten, wie schön für dich!“ spottete Gaby.
„Was soll man machen, so ist’s halt in den Kreisen des Bildungsbürgertums. Gelegentliche Ausbrüche, ansonsten das Primat der Regeln meiner Klasse“, grinste Lutter.
„Und wenn wir doch noch mal die Diktatur des Proletariats errichten können, dann kommst du als erster an die Wand!“ sagte Gaby, und Lutter wusste nicht so recht, ob sie dies ebenso spaßig oder aber mit einem Schuss Ernst oder Ärger geäußert hatte.
Jedenfalls war Lutter froh, als er nach einer Weile den für ihn unangenehm gewordenen Ausflug in seine Vergangenheit nach Begleichung der Rechnung - 8,50 DM wegen seiner Zugehörigkeit zur dekadenten Bourgeoisie - beenden konnte und erleichtert zur Bushaltestelle am Uniplatz schlenderte.
Statt Fußball in Gabys Kneipe lieber allein Fußball zu Hause in Bensheim. Da wäre auch seine Konzentration aufs Spiel besser, und, wer weiß es bei unseren abergläubischen Fußballern schon, vielleicht würde sich sein Mitfiebern und Anfeuern über irgendwelche magischen Kanäle doch auf Bertis Truppe übertragen, so dass sie morgen von Bild und anderen Blättern als die Helden von Wembley gefeiert werden würden, die mit teutonischer Kraft und unbändigem Siegeswillen den englischen Riesen in die Knie gezwungen hätten. Ferner war es ja auch möglich, dass sich Dorothee ja doch mal wieder telefonisch bei ihm meldete, und da wollte er nicht durch Abwesenheit glänzen.


 

Pressestimmen (Auswahl)


Irmtraud Becker-Lindner schrieb in der "Hessischen Lehrerzeitung" der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) unter der Überschrift "Homo Faber in Dannenfels" u. a.:

Insgesamt ist der Roman zu empfehlen als unterhaltsame Ferienlektüre für alle Kolleginnen und Kollegen mit Sinn für Humor (nicht nur) im südhessischen Raum.

Die "Heimatzeitung" titelte:

"Ich finde ihn toll, aber liebe ich ihn wirklich?"

Ein begeisterter Leser urteilte beim Internet-Buchhändler "Amazon":

Dieses Werk beinhaltet wirklich alles, was ich von einem sehr guten Buch erwarte: Intelligenz, Spannung und wahre Poesie!

 

Kaufmöglichkeit

BITTERBLUE kann in jeder Buchhandlung (auch im Internet) bestellt werden unter

ISBN 3-931643-07-7

Preis: 13,80 €

Sie können sich aber auch an den Autor direkt wenden. Nutzen Sie dabei die auf der Startseite angegebene E-Mail-Adresse!